Menschen

Herr Nielsen vom Dach: Ein ganz normaler Tag mit Reetdachdecker Norbert Nielsen

Reetdächer gehören zu Norddeutschland wie Dünen und Wattenmeer. Der Föhrer Dachdecker Norbert Nielsen erklärt, wie das Schilfrohr aufs Haus kommt – und noch einiges mehr!

von Natascha Fouquet12.7.2023
Natascha interessiert, was Menschen bewegt. Das Unterwegssein bedeutet für sie: die Perspektive zu wechseln und niemals aufhören zu lernen.

„Sturm ist, wenn die Schafe keine Locken mehr haben“ – dieser Spruch wurde zweifellos auf der Insel Föhr geprägt, denke ich, als ich bei strammer Brise, die hier eigentlich immer weht, auf dem Fahrrad Richtung Inselosten strampele. Die Schafherden, die ich auf meinem Weg passiere, machen entgegen meinen Erwartungen alle einen ordentlich ondulierten Eindruck.

Es ist 7 Uhr morgens, als ich das Ortsschild Oldsums erreiche. Ein charmantes reetgedecktes Haus kuschelt sich hier an das nächste, tiefe Traufen, kleine Fenster, oft Fachwerk, Rosen und Klatschmohn leuchten vor den Haustüren um die Wette. Hygge auf Friesisch. Und Reet ist das Stichwort – denn es ist der Grund meiner Tour. Ich will wissen, wie die Halme aufs Dach kommen, ob das Traditionshandwerk noch Zukunft hat, wo dieser älteste aller Baustoffe geerntet wird und ob er in puncto Energiebewusstsein nicht ein „echtes Pfund“ ist. Beantworten kann dies Norbert Nielsen. Er ist gebürtiger Insulaner, gelernter Zimmermann und passionierter Reetdachdecker.

Erste Hilfe beim Dachschaden

„Hartelek welkimen üüb Feer“, (herzlich willkommen auf Föhr) begrüßt mich Nielsen, seit 1995 Inhaber der Föhrer Reetbedachungs GmbH, auf Fering. Wie viele Insulaner spricht auch er noch diesen Inseltypischen Dialekt, der mittlerweile sogar Abiturfach ist. Viel Zeit für Smalltalk bleibt uns nicht, denn es geht zur Baustelle.

Das Haus zeigt sich „oben ohne“, denn das Naturdach war marode. „Wenn schon die Bindung zu sehen ist, ist dies ein guter Indikator dafür, dass ein Dach runter muss“, erklärt Nielsen. „Eine staubige Angelegenheit, wenn einem der Dreck eines halben Jahrhunderts um die Ohren fliegt.“ 30 Jahre „plus“ halte so ein Reetdach. Nach etwa einem Jahr beginnen die Halme sich zu setzen, bedeutet: Das Volumen der gut 40 cm dicken Schicht verringert sich dann um etwa 1 cm per anno. Sonne, Frost, Sturm und vor allem Feuchtigkeit lassen das Material altern. Und: Reet sei ein guter Seismograf für die Veränderung des Klimas, hat der 52-Jährige beobachtet. In den Wintermonaten fehlen die Frostperioden, die UV-Strahlung und die zunehmende Feuchtigkeit in der kalten Jahreszeit machen dem Schilf zu schaffen. Moose, Algen und ein Pilz, der seit etwa zehn Jahren vermehrt auftritt, verringern die Lebensdauer der Dächer. Entsprechend nehmen Dachpflege und Instandhaltung weit mehr Zeit in Anspruch als früher.

Tradition trifft auf Energiesparverordnung

Nielsens Team ist längst in gut zehn Metern Höhe unterwegs. Energetische Sanierung ist jetzt angesagt, um den darunterliegenden Wohnraum und die Dachkonstruktion auf Niedrigenergiehausstandard zu bringen. Ursprünglich – gibt er mir einen kleinen Exkurs in die Entstehungsgeschichte der Reetdächer – wurden Dachgeschosse als Stroh- oder Getreidelager genutzt, eine Dämmung war also nicht nötig. Der Luftstrom war ausdrücklich erwünscht, um Fäulnis zu verhindern. Regen konnte zwar in die äußere Dachschicht eindringen, doch ebenso schnell wieder entweichen. Seit man unter dem Dach lebt, dichten eine zusätzliche Dampfsperre und Dämmmaterial das Dach ab. Eine solche Konstruktion ist zwar in Sachen Energieeffizienz top, die Feuchtigkeit, die von außen eindringt, kann heute jedoch nur entweichen, indem man einen durchlüfteten Zwischenraum von 6 cm zwischen Dämmung und Schilfrohren schafft.

Neben den Witterungseinflüssen verringern Moose, Algen und ein Pilz die Lebensdauer der Dächer.Foto: Merlo und Mildred Schaub
Die in die Dachsparren eingehängten Laufbalken dienen den Handwerkern als Standfläche.Foto: Merlo und Mildred Schaub
Reetbund für Reetbund wird auf dem Dach befestigt und in die richtige Position gebracht.Foto: Natascha Fouquet

Für friesische Gemütlichkeit muss man tiefer in die Tasche greifen

9 Uhr, Frühstückspause. Kaffee aus der Thermoskanne macht die Runde, Stullen werden aus Butterbrotpapier geschält. „Als sich Anfang der 90er Jahre der letzte Reetdachdecker der Insel zur Ruhe setze, eignete ich mir das nötige Fachwissen an“, erinnert sich der Zimmermann. 1995 startete er gemeinsam mit seinem damaligen Partner in die Selbständigkeit. Seitdem haben der 52-Jährige und seine sechs Mitarbeiter alle Hände voll zu tun. Seit einigen Jahren gibt es einen weiteren Mitbewerber und bald wohl auch einen dritten. Gut sei das, findet Nielsen, anders könne man auf die hohe Nachfrage nicht reagieren. Tatsächlich wächst die Fangemeinde derer, die sich ein Haus unter Reet wünschen, trotz der steigenden Materialkosten.

Apropos, wie tief muss ein Bauherr für ein schmuckes Friesendach ins Portemonnaie greifen? Der Fachmann überschlägt: „Grob geschätzt kostet es doppelt so viel, wie ein konventionelles Dach.“ Viele Schritte seien notwendig – von der Ernte der „Phragmites Australis“, die überwiegend aus Rumänien, Ungarn, Ukraine und sogar Asien importiert wird, bis zur Fertigstellung eines Dachs. Ein Jahr braucht die Pflanze, bis sie die optimale Halmdicke erreicht, Erntezeit ist im Dezember. Rund vier Wochen lang werkeln drei Mann zeitgleich auf einem Dach. „Aufgrund der um gut 50 % gestiegenen Materialpreise muss ich 150 € pro Quadratmeter allein für die Reeteindeckung aufrufen. Für ein Einfamilienhaus mit 250 Quadratmetern Dachfläche kommt da also einiges zusammen.“

Reet ist so lange Natur, bis es auf das Dach kommt

Zum Mittagessen geht es nach Hause, die Wege sind ja nicht weit auf der 12 km langen und 6,8 km breiten Nordseeinsel. Frau Nielsen hat noch im Büro zu tun – ihr Revier im Familienbetrieb. Zwei Töchter studieren auf dem Festland, die Dritte ist in Ausbildung. Ob sich da schon eine Anwärterin für die Übernahme des Betriebs gefunden hat? „Leider nein“, bedauert Norbert Nielsen. Nur zu gerne würde er Nachwuchs ausbilden, die Suche war bisher nicht erfolgreich. „Bleibt mir also nur die Hoffnung, dass ein künftiger Schwiegersohn Interesse zeigt“, lacht er. 

Auf der nächsten Baustelle leuchtet die frisch gedeckte Leeseite des Daches schon golden in der Sonne. Das mannshohe, zu Bündeln geschnürte Schilf kommt mitsamt der Blume (Ähre) aufs Dach und wird anschließend dem Klopfbrett in die richtige Position gebracht. Die Blütenstände verschwinden jeweils unter der nächsten Schicht. Werkzeug braucht Nielsen nur wenig: einen kleinen und einen großen Klopfer, eine Zange, einen Drahtbinder sowie einen Akkuschrauber. Ach ja, und natürlich die schmalen Laufbalken, die – in die Dachsparren eingehängt – das Stehen an der Schräge ermöglichen. Ursprünglich wurden Rohrdächer aufwendig genäht, erfahre ich. Heute hält ein fester, geschraubter Draht das Reet an Ort und Stelle. Natur pur also? „Mitnichten“ klärt Nielsen mich auf. Allein die Witterungseinflüsse lassen Reet zu Sondermüll werden. Derzeit denkt er über eine Möglichkeit nach, abgetragenes Material zur Energiegewinnung zu nutzen. Auf seinem Schreibtisch liege bereits ein fertiges Konzept für eine solche Anlage.

Nielsen schaut auf die Uhr: 17.30 Uhr, Feierabend für sein Team, aber längst noch kein Wochenende für Norbert Nielsen. Samstag ist Bürotag, sagt er. Über die Woche bleibe manches liegen, das muss halt am Wochenende erledigt werden. Ein Fulltime-Job, den man eben nur mit ganz viel Herzblut ausüben kann.

Der Mann vom Dach:

Norbert Nielson steckt all sein Herzblut in die Arbeit als Reetdachdecker.

Da-musst-du-hin!

Unterwegs in Oldsum? Hierhin lohnt sich ein Abstecher:

Friesen-Whisky
Seit einem Jahrhundert betreibt Familie Hinrichs in Dunsum eine Landwirtschaft. Getreide baute man ohnehin an, warum dann nicht gleich auch Gerste für die Herstellung von Whisky? Die Destille kann besucht und der „New Make“ sowie der „Single Malt“ natürlich gekostet werden. Das kleine Café ist ebenso empfehlenswert!

Wein vom Wattenmeer
Dass in Föhrs rauem Nordseeklima Wein gedeihen kann, beweist das Weingut Waalem in Nieblum seit 2009. Von Juni bis September kann man Führungen buchen und probieren, was die Reben hergeben.

Museum "Kunst der Westküste"
In Alkersum findet man dieses moderne und erstaunlich gut bestückte Museum, das unter anderem Künstler wie Max Liebermann, Edvard Munch und Emil Nolde zeigt.

Mobile Sauna mit Meerblick
„Wanderwagen“ haben die Architektin Kerstin und der Zimmerer Frederik Macher ihre mobilen Holzsaunen genannt. Sie stehen am Strand in Wyk, in Goting und in Hedesum und können für ein ganz privates Sauna-Erlebnis gebucht werden – Abkühlung in der Nordsee inklusive!

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