Menschen

Zwischen Postkarten und Reisen ins Blaue: Ein Interview mit Philosoph Peter Vollbrecht

Dr. Peter Vollbrecht ist Philosoph und Reisender. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was Urlaub und Reisen voneinander unterscheidet, wann man urlaubsreif ist und welche Art von Reise am Tiefsten geht.

von Jana Rauschenbach28.9.2023
Jana Rauschenbach leitet die Redaktionsbereiche bei „Im Grünen“ und 7fridays. Ihre Mission: Mensch und Natur wieder in Einklang bringen.

Herr Vollbrecht, was ist denn diese Urlaubsreife, von der so oft gesprochen wird?

Ich hatte das Gefühl, dass wir nach der Pandemie einen Zustand hatten, in dem wir alle die Bedeutung dieses Wortes mehr denn je gefühlt haben. Und plötzlich waren Flugreisen auch wieder gefragt, obgleich die Preise doch sehr gestiegen sind. Man wollte wieder raus. Auch Fernreisen boomten wieder. Sie stehen übrigens für die „große Welt“. Und vielleicht geben uns die Begriffe „große Welt“ und „kleine Welt“ hier auch den richtigen Einstieg. Die „große Welt“ das sind die Veränderungen, die den Menschen beflügeln. Sie frischen das Leben auf.

Ich mag das Wort „Sommerfrische“. Der Begriff tauchte rund um das 19. Jahrhundert zum ersten Mal auf: Wenn es in der Stadt stickig wurde, fuhr man ans Meer. Was verbinden Sie mit dem Begriff?

Ich denke da direkt an die ostfriesischen Inseln. Norderney im Speziellen. Anfang des 19. Jahrhunderts sind dort die ersten großen Hotels entstanden. Da wurde es bald zur Gewohnheit, im Sommer ans Meer zu fahren. Das war in den 30er und 40er Jahren. Bis heute hat das Meer einen besonderen Reiz. Hier ist das Land zu Ende, man schaut ins Ungebundene, ins Freie. Es ist aber auch wiederum ein Beginn, denn von hier aus gelangt man zu anderen Ländern. Hier entsteht die Fernsehnsucht. Aber auch die Berge eigenen sich für die Sommerfrische. Ich reise selbst oft ins Salzkammergut nach Bad Aussee.

„Wenn ich die Menschen beobachte, dann sehe ich, wie Urlaube lange geplant werden. Der spontane Trip ist eigentlich aus der Mode gekommen.“

Dann haben Sie auch öfter das Bedürfnis nach Urlaub? Wie entsteht das denn überhaupt? Ist es nur der Wunsch nach einem Tapetenwechsel oder ein Erschöpfungszustand?

Wenn ich die Menschen beobachte, dann sehe ich, wie Urlaube lange geplant werden. Der spontane Trip ist eigentlich aus der Mode gekommen. Wir richten uns also nicht nach einem Bedürfnis, sondern wir planen, wann dieses Bedürfnis in etwa eintreffen könnte. Das ist also in erster Linie kein wirkliches Gefühl, denn dann wäre es ja spontan im Moment des Bedarfs.

Wenn ich nur nach meinem Gefühl gehe, was wären denn Signale für die eigene Urlaubsreife?

Wenn Sie körperliche Signale meinen, dann bin ich skeptisch, ob es sie gibt. Es ist eher so, dass wir das so machen, weil es eben alle machen. Alle erzählen vom Urlaub. Da will man nicht hinten anstehen, schon des Sozialprestiges wegen. Ein natürliches Bedürfnis? Erschöpfung und das Verlangen, den Alltag zu verlassen, endlich einmal einen Tag ohne vorgeschriebene Agenda leben zu können. Um Erholung geht es wohl weniger, denn Urlaub ist oft stressig. Wenn ich Entspannung brauche, könnte ich zu Hause bleiben. Aber es ist wohl am ehesten der Tapetenwechsel, der gebraucht wird. 

Und im Schwarmverhalten geht es ja dann auch schnell um Statussymbole …

Ganz gewiss. Postkarten schreiben zum Beispiel. Warum macht man das? Natürlich kann man seine Freund:innen grüßen, aber es ist vor allem Prestige und sagt: „Schau, ich bin jetzt hier.“ Man stellt durch das Reisen natürlich seinen kulturellen Kosmopolitismus zur Schau, klar. Es gibt diese Menschen, die sich Stecknadeln in Weltkarten machen, um ein Bild davon zu erzeugen, wieviel sie schon unterwegs waren.

Heute hat Social Media die Postkarte abgelöst. Hat sich die Statussymbolik des Reisens damit nochmal beschleunigt?

Da beherrsche ich das Medium nicht. Aber ich finde faszinierend, dass durch diese Hypes richtige Reiseanstürme ausgelöst werden. Zum Beispiel Dubrovnik durch „Game of Thrones“. Alle wollen da sein, wo der Hype ist. Das ist philosophisch interessant, weil hier Fiktion und Realität gleichsam verschmelzen. Es ist ein fiktiver Ort. Er ist nicht existent. Da verbringt man also seinen Urlaub an einem Drehort.

„Die Reise ist etwas, wo man das Fremde aufsucht. Urlaub ist etwas, das man als Unterbrechung einschiebt. Man verlässt seine Welt nicht wirklich. Man unterbricht sie nur. Beim Reisen geht es um den neuen Horizont. Das ist existenziell.“

Wo Sie gerade von „Urlaub“ sprechen: Für mich sind Urlaub und Reisen schon immer ganz verschiedene Dinge. Wie sehen Sie das?

Ich bin dem mal nachgegangen. Das Wort „Urlaub“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen. Da steckt das Wort „erlauben“ drin. Es kommt aus dem Umfeld der Beamt:innen und Soldat:innen, die wollten sich die Erlaubnis holen, sich von der Truppe zu entfernen. Urlaub ist also immer etwas, das in einem festen Arbeitsverhältnis stattfindet. Die Reise an sich ist frei. Sie ist nicht gekoppelt an Arbeit. Reisen bedeutet länger an einem Ort sein zu wollen, hier ist sogar der Weg Teil der Erfahrung. Die Reise hat ihre Wurzeln bereits in der Antike. Früher gab es Handelsreisen. Die griechischen Philosophen waren regelmäßig unterwegs, um sich Mathematik und Astrologie anzueignen. Pilgerreisen gab es auch schon sehr früh. Das Motiv war immer dasselbe: „Weltkenntnis“ zu erlangen. Die Reise ist etwas, wo man das Fremde aufsucht. Urlaub ist etwas, das man als Unterbrechung einschiebt. Man verlässt seine Welt nicht wirklich. Man unterbricht sie nur. Beim Reisen geht es um den neuen Horizont. Das ist existenziell.

Ich glaube, dass das Allein-Reisen am tiefsten geht. Teilen Sie das?

Ja, da erreicht man die größtmögliche existenzielle Tiefe. Die Sehnsucht nach dem anderen Leben treibt uns an. Es ist auch ein bisschen so, dass man unterwegs ist zur eigenen Identität. Wir Menschen sind bipolar. Wir wollen eigentlich, dass alles so bleibt wie es ist, auf der anderen Seite wollen wir Veränderungen. Also Sicherheit vs. Erfahrung.

„Fantasie ist undiszipliniert. Man muss sich nur in die fremde Kultur hineinfühlen, hineindenken – das reicht eigentlich schon, um woanders zu sein.“

Ist es denn überhaupt möglich, die eigene Tiefe ohne das Reisen zu erfahren?

Ich denke schon, ja. Es bedarf der Weltimpulse. Die gibt es auch in der unmittelbaren Umgebung. Literatur, Kunst, Medien – das sind Fenster in die Ferne. Da braucht man nicht reisen, man muss nur hindurchschauen. Fantasie ist undiszipliniert. Man muss sich nur in die fremde Kultur hineinfühlen, hineindenken – das reicht eigentlich schon, um woanders zu sein. Es kann auch einfach ein anderer Kopf sein, mit dem ich spreche. Das ist auch reisen.

Wir sprechen in der Tiefe aber nicht mehr so viel. Die Welt verändert sich sehr. Wir sind viel am Handy, kaum noch in Literatur und Kunst. Geht das Fenster in die Ferne nicht gerade zu?

Ich habe nicht so viel Kontakt zur jungen Generation. Ich glaube, der Welthunger ist evolutionär und deshalb immer da. Ich denke, die Fenster verändern sich vielleicht, nicht aber die Botschaften. Das Internet ist ein unfassbar großes Fenster. Und ich meine auch, dass Fenster sich ändern dürfen. Wissen Sie, ich war mit 7 Jahren mal mit meinen Eltern auf dem Containerschiff Richtung Karibik unterwegs. Und ich erinnere mich, dass mich die Weite des Himmels so sehr fasziniert hat. Jetzt war ich nochmal mit dem Segelschiff dort. Und ich habe den kleinen Peter von damals nicht mehr gefunden. Die Magie war nicht mehr da. Alles hat seine Zeit.

Ermüdet der Blick, wenn man älter wird? Weil man so viele Himmel gesehen hat?

Vielleicht. Vielleicht ist es das Phänomen der ersten Entdeckung. Wenn alles gleichsam seine Zeit hat, was steht denn jetzt in der eigenen Lebensphase an? Da gibt es keine allgemeine Antwort. Aber die Frage zu stellen, erscheint mir bedeutsam.

Also reise ich generell besser, wenn ich mich damit beschäftige, was ich gerade erfahren will?

Ja, mit der Intention reist man in jeden Fall zielgerichteter. Es sollen sich ja auch Dinge ergeben. Was unterwegs passiert, steht nicht von vornherein fest. Vieles darf und soll einfach seinen natürlichen Lauf nehmen. Aber ich kann festlegen, wo ich sein will. Was mich mehr interessiert. Wo ich mich erfahren möchte. 

In der Extremform des „passieren lassens“ kenne ich den Begriff „ins Blaue fahren“. Man reist ohne Ziel.

Ja, das ist ein guter Begriff. Ich kenne kaum noch Menschen, die so spontan sind, dass sie gar nichts vorher festlegen. Einfach losfahren und sich leiten lassen. Das kann eine sehr bereichernde Art von Reise sein.

Vielen Dank für das Interview, Herr Vollbrecht.

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